Neuronale Hermeneutik der Bibel
Der Essay enthält noch keine Hermeneutik (=Verstehenskunst) der Bibel. Ich habe nur in einer Fußnote darauf verwiesen1. Eine solche Verstehenslehre muss davon aus gehen, dass die Bibel und ihre Teile selber ein semantisches Netzwerk ist. Weil sie selber ein Netzwerk ist kann sie andere Netzwerke beeinflussen, wie z.B. unsere neuronales Netzwerk oder unsere sozialen Netze verändern.
Die Bibel und das Netzwerk
Die Bibel als Netzwerk
Die Bibel bildet ein semantisches Netzwerk. Dabei lassen sich verschiedene Teilnetze unterscheiden.
Das einzelne literarische Buch als semantisches Netz
Jedes selbständige literarische Werk der Bibel bildet für sich ein geschlossenes Netzwerk, z.B.
- ein Evangelium
- ein einzelner Brief
- ein prophetisches Buch des Alten Testamentes
kleinere literarische Einheiten
Innerhalb eines Buches kann es aber wiederum selbständige Einheiten geben die für sich genommen semantische Teilnetze bilden, z.B.
- ein Psalm
- eine Rede oder Predigt, wie die Bergpredigt
Eine Teilsammlung von Büchern als Netzwerk
Auch mehrere Bücher können für sich genommen ein semantische Einheit bilden:
- Die fünf Bücher Bose (Pentateuch) oder das Gesetz
- Die prophetischen Bücher des Alten Testamentes, oder die Propheten
- Die Weisheitsliteratur, die Psalmen, Sprüche, das Predigerbuch und das Buch Hiob umfasst
- Die Evangelien
- Die Briefe des Paulus
- Die johanneischen Schriften, also das Johannesevangelium, die Briefe des Johannes und die Offenbarung
- Die Schriften des Lukas, also sein Evangelium und die Apostelgeschichte
Damit wird ausgedrückt, dass es innerhalb dieser Buchsammlungen Querverweise und Beziehungen gibt, etwa durch den selben verwendeten Wortschatz oder das selbe verwendete ThemaDer Kanon des Alten und des Neuen Testamentes
Jeder der beiden Testamente bildet für sich genommen wiederum ein eigenes Netzwerk.2 So kann das Alte Testament sehr wohl für sich interpretiert werden, wenn man es aus einer jüdischen Perspektive liest. Das Neue Testament kann aber nicht ohne das Alte Testament gelesen werden, da es immer wieder auf das Alte Testament zurückgreift.
Die gesamte Bibel als Netzwerk
Für den christlichen Glauben wird man aber von einem Gesamtzusammenhang auszugehen haben und im Rahmen einer biblischen Theologie die gesamte Bibel als ein semantischen Netzwerk zu verstehen haben.
Das heißt es gibt auch Querverbindungen die historisch nicht gewachsen sind. So kann eben auch in historisch umgekehrter Reihenfolge das Alte Testament vom Neuen her interpretiert werden.Die Bibel und unser neuronales Netzwerk
Durch das Lesen oder Hören der Bibel verändert sich unser eigenes neuronales Netzwerk. Das heißt es entstehen neue synaptische Verbindungen oder bestehende werden verstärkt. (siehe Neuronales Lernen).
Das heißt es entsteht ein Abbild des semantischen Netzwerkes der Bibel in unserem neuronalen Netzwerk.
Dies ist ein sehr dynamischer Vorgang. Wir können in unserem Leben die Bibel mehrmals lesen und werden immer wieder auf neue Dinge stoßen und unsere Bibelkenntnis wird sich weiter vertiefen.Die Bibel und unser soziales Netzwerk
Wenn Menschen von der Bibel beeinflusst werden dann entsteht ein soziales Netz, das ein Abbild des semantischen Netzes in der Bibel ist.
Die Bibel als Zeugnis dafür, wie Menschen Gott erfassen
Die Bibel erzählt von Gott. Sie gibt Zeugnis davon, wie Menschen durch viele Jahrhunderte hindurch, Gott erfasst haben. Insofern ist die Bibel der Kronzeuge einer neuronalen Theologie.
Die Bibel als Buch der persönlichen Beziehung zu Gott
Die Bibel ist in erster Linie kein philosophisches Buch, sondern sie erzählt persönlich erlebte Geschichte. Insofern liegt in der Bibel der Schwerpunkt auf einer beziehungsorientierten Theologie.((Vgl. Burkhardt, Neuronale Theologie,2018, S.25.)). Sie ist darin ein religiöses Buch, weil Religion etwas mit der Beziehung zu Gott zu tun hat.
Ich betrachte das Bibellesen als Ausdruck meiner Beziehung zu Gott. In ihr redet Gott zu mir und ich antworte ihm etwas im Gebet.
Die Bibel als theologisches Buch
Die Bibel enthält aber auch begriffsorientierte Theologie. Diese wird teilweise in den narrativen Erzählungen mittransportiert oder sie finden in theologischen Traktaten wie dem Römerbrief ihren Niederschlag. Die Bibel ist jedoch kein dogmatisches Kompendium, das systematisch alle Fragen beantwortet.
Sie ist deswegen auch nicht widerspruchsfrei.(( Dies steht im Widerspruch zur altprotestantischen Orthodoxie, die die Vollkommeneheit perfectio behauptete. Vgl. Schmid, Dogmatik der Evang.-Luth. Kirche, 2. Aufl., 1853, §9 perfectio seu sufficientia .)) Sondern ist gerade darin ein Zeugnis einer lebensnahen und ehrlichen Theologie((Vgl. Burkhardt, Neuronale Theologie, 2018, §5.)), die sich als neuronale Theologie von einer herkömmlichen systematischen Theologie unterscheidet.3
Wenn ich die Bibel lese, dann versuche ich vor allen Dingen zu verstehen. Ich versuche mein begriffliches Denken über Gott zu erweitern. Ein solches Lesen führt oft ins Philosophieren oder Spekulieren.
Die Bibel als spirituelles Buch
Die Bibel erzählt jedoch auch, wie Menschen Zustandserfahrungen gemacht haben, sowohl mit ihrem eigenen Körper als auch in ihren religiösen Gemeinschaften. Weil die Bibel selbst ein Netzwerk ist, kann sie durch Isomorphie4, diese Zustandserfahrung in andern Netzen wieder hervorrufen. Dies gilt für unser eigenes neuronales Netz, als auch für unsere Sozialen Netze. Die Bibel will also nicht nur über Gott informieren (begriffsorientierte Theologie), oder zu einer Beziehung zu Gott einladen (beziehungsorientierte Theologie), sondern sie will uns persönlich und unser Gemeinschaften verändern (zustandsorientierte Theologie).(( Dies ist genau das was die Altprotestantische Theologie als Wirkmächtigkeit bezeichnete. Vgl. Schmid, Dogmatik der Evang.-Luth. Kirche, 2. Aufl., 1853, §51 efficiacia Verbi.))
In ihr wirkt die Bibel unmittelbar auf mich, selbst und gerade durch Texte die ich nicht verstehe. Natürlich mag das etwas magisch erscheinen. Aber nur so ist und bleibt die Bibel ein heiliger Text
- Burkhardt, Neuronale Theologie, 2018, S. 36 Fußnote 113. [↩]
- für das Alte Testament ist zwischen der Gestalt der griechischen Übersetzung, der Septuaginta LXX, wie sie zur Zeit Jesu verwendet wurde und des erst nachchristlichen Abschlusses der hebräischen Bibel zu unterscheiden. [↩]
- Burkhardt, Neuronale Theologie, 2018, S. 36. [↩]
- Vgl. Burkhardt, Neuronale Theologie, 2018, S. 89. [↩]