Sozioneurologie

Erkenntnisse aus dem Essay "Neuronale Theologie"

Der Essay enthält bereits einen Ausblick auf mögliche Zusammenhänge zwischen Neurologie und Soziologie.((Vgl. Burkhardt, Neuronale Theologie, 2018, §23.))

Strukturgleichheit von Netzen

Der entscheidende Vergleichpunkt ist der Netzbegriff.
Das Gehirn ist ein [neuronales Netzwerk Aber auch die Gemeinschaft von Menschen bildet ein Netzwerk.((Sie dazu Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/Netzwerkforschung)). Diese Strukturgleichheit nenne ich *Isomorphie* (=Gestaltgleichheit).
Zugleich wird das soziale Netzwerk im Gehirn durch ein Beziehungsnetzwerk abgebildet. Mehrere Menschen können sich mit ihren neuronalen Netzen verschalten und bilden dann einen neuronales, transpersonales Supernetzwerk .((Vgl. Burkhardt, Neuronale Theologie, 2018, S.88.)).
Eine Sozionneurologie kann nun die Wechselwirkungen zwischen einzelnen Individuen mit ihrem neuronalen Netz im sozialen Netz untersuchen.

Methodische Schwierigkeiten

Allerdings sind diesem Ansatz noch Grenzen gesetzt. Einerseits lassen sich mit den bildgebenden Verfahren unter Laborbedingungen kein realen sozialen Wechselwirkungen untersuchen (z.B. die Aktionen eines Fußballteams während eines Spiels.) Soziale Interaktionen können in der Röhre nur mit Bildern simuliert werden.1.

Grundlegende Unterschiede

Außerdem verhält sich ein menschliches Netzwerk vollkommen anders als ein Zellverband von Neuronen. Ein menschliches Netzwerk kann außeinanderlaufen und den Kontakt verlieren, ein Zellverband bleibt immer zwangsweise in Kontakt.((Vgl. Burkhardt, Neuronale Theologie, 2018, S.86, mit einem Hinweis auf Wilber, Integral Spiritualität, 2006.))

Übertragung von Zuständen zwischen neuronalen und sozialen Netzen

Trotz aller Unterschiede kann es aber ein gegenseitige Übertragung von Zuständen zwischen neuronalen und sozialen Netzen geben.
So kann sich z.B. der Angstzustand eines Individuums auf eine Gruppe übertragen.((Vgl. Burkhardt, Neuronale Theologie, 2018, S.90.)) Die gute oder schlechte Atmosphäre innerhalb einer Gruppe kann den Zustand eines einzelnen beeinflussen.((Vgl. Burkhardt, Neuronale Theologie, 2018, S.91, hier als Beispiel für eine positive Gotteserfahrung.))

Sozioneuronale Selbststeuerung

Relative Stabilität der neuronalen Selbststeuerung

Die Aufgabe der Selbststeuerung ist es, das Überleben des Individuums zu gewährleisten. Es muss den Organismus vor Zerstörung bewahren und die lebenswichtigen Funktionen aufrecht erhalten.

  • Der Zellzusammenhalt ist jedoch nicht flüchtig, sondern konsistent.
  • Normalerweise verfügt der menschliche Organismus über genügend Energiereserven, die erst aufgebraucht sein müssen, bevor es zu einem lebensbedrohlichen zustand kommt.
  • die Kommunikationswege hart verdrahte, so dass Informationen innerhalb des neuronalen Netzwerkes jederzeit weitergeben werden können.
  • Siehe man mal von Neuroplastizität, bei der das Gehirn neue Funktionen erlernen kann, ab, so ist der Organismus bereits von vornherein funktional gegliedert.

    Instabilität der sozioneuronalen Selbststeuerung

    Die sozioneuronale Selbststeuerung steht dabei vor ganz anderen Steuerungsaufgaben.

  • Der Zusammenhalt der einzelnen Individuen ist nicht konsistent, sondern flüchtig.
  • Ein soziales Netz kann sich jederzeit auflösen, z.B. in dem die Menschen auseinanderlaufen.
  • Die Kommunikationswege sind nicht hart verdrahtet, sondern sie müssen immer wieder neu hergestellt werden. D.h. wir nicht dauerhaft offene Kommunikationskaläe zu anderen Knotenpunkten des sozialen Netzes. Die moderne online-Gesellschaft mag dieses Manko abgeschwächt haben. Überwunden hat sie es aber nicht nicht.
  • Wenn Menschen zusammenkommen ist es noch nicht klar, welche Funktionen sie innerhalb des sozialen Netzes haben. Diese müssen immer wieder neu verhandelt bzw. in der Praxis zusammen erarbeitet werden.

Die Schwierigkeiten der sozioneuronalen Selbststeuerung werden anschaulich in der Geschichte vom Turmbau von Babylon (Genesis 11,1-9) illustriert:

Gen. 11:1 Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. 2 Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. 3 Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! — und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel 4 und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder. (Luther 84)

Die Angst der Menschen ist tatsächlich die Angst vor der Zerstreuung also die Angst vor der Auflösung des sozialen Netzwerkes. Die Menschen haben die Flüchtigkeit menschlicher Gemeinschaft erkannt und entwickeln ein Program sozioneuronaler Selbststeuerung. Dieses enthält mehrere Komponenten.
Sie schaffen eine empirische Basis für ihre Gemeinschaft. Dies ist einerseits die Arbeit an einem gemeinsamen Projekt, anderseits das materielle bleibende Produkt dieses Projekt. der Turm der bis an den Himmel reichen soll. Aber diese empirische Basis hat nur einen Zweck: damit wir uns einen Namen machen. Die empirische Basis dient dazu einen neurologischen Begriff zu bilden. Der Name für ein Wir, mit dem die Gemeinschaft eine immaterielle Dimension erhält.((Vgl. Burkhardt, Neuronale Theologie, 2018, S.88.))
Wie unzuverlässig diese sozioneuronlogisch Selbststeuerung arbeitet zeigt sich am Ende der Geschichte. Sobald die Kommunikation zwischen den Individuen gestört wird bricht das ganze Netz zusammen.

5 Und der Herr sprach: (...)Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! 8 So zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. (Luther 84)

Verankerung der Soziologie in der Neurologie

Weil die Fähigkeit in einer Gruppe zu leben und zu arbeiten ein entscheidender Vorteil ist, hat die Evolution unserem Gehirn eine ganze Reihe von neurologischen Fähigkeiten verpasst, die die sozionneurologische Selbststeuerung ermöglichen sollen. Weil sie so tief in unserem neurologischen Netzwerk verankert ist, kann man sie mit Recht auch sozioneurologisch nennen. Das Gehirn selbst ist ein soziales Organ.((Vgl. Burkhardt, Neuronale Theologie, 2018, S.85.)). Dies kann hier nur in kürze Ausführt werden:

  • Unsere Sprache setzt umfangreiche neurologische Schaltkreise vorraus. Sie macht nur Sinn, wenn man in einer Gruppe lebt und arbeitet.
  • Die Fähigkeit das soziale System als Beziehungsnetzwer abzubilden dient nur dem Zweck, soziale Wirklichkeit zu verstehen und in ihr agieren zu können.
  • Dazu zählt auch die Fähigkeit in virtuellen Begriffen denken zu können die das Wir einer Gemeinschaft repräsentieren.
  • Dazu zählt schließlich das weite Feld der neuropyhsischen Systeme, die auf unser Beziehungbildung Einfluss nehmen, wie z.B. die Sexualität. Dabei hat Sexualität nicht nur eine biologische Funktion für die Fortpflanzung, sondern bewirkt auch eine sozioneurologische Selbststeuerung, in dem sie Familienbande ordnet.
  • Schließlich können Moral, Gesetze, Religion usw. nicht nur als ein Konstrukt der neuronalen Selbstteuerung angesehen werden, sondern sie sind viel eher ein Konstrukt der sozioneuronalen Selbststeuerung, die das Leben des Einzelnen sinnvoll in das Leben der Gemeinschaft einordnet.
  1. Vgl. Burkhardt, Neuronale Theologie, 2018, S.86. []