Umkehren oder Untergehen


Rezension über das Buch „Umkehren oder Untergehen“ von Alexander Garth

Haben wir es nicht schon immer gewusst?

Die These, dass die Krise der Kirche nicht nur auf die äußeren Umstände der Säkularisierung zurückzuführen ist, ist nicht neu.

Vor genau zweihundert Jahren veröffentlichte der Arzt De Valenti sein Buch "Über den Verfall der protestantischen Kirchen"1.  In Abgrenzung zur Theologie aufgeklärter Theologen((So vor allem Bretschneider K. G. (1820) , Über die Unkirchlichkeit dieser Zeit)) vertrat der streitbare Arzt die Ansicht, dass es nicht nur einen äußeren Zerfall, sondern auch einen "Inneren Verfall" der Kirche gibt. Dieser kann auf die aufgeklärte Theologie zurückgeführt werden. Er griff damit eine Argumentationsfigur der Erweckungsbewegung auf2

Auch, dass die Volkskirche mit ihrer Selbstregeneration durch die Kindertaufe keine Zukunft hat und wir nach amerikanischem Vorbild auf eine Freiwilligkeitskirche zusteuern, ist kein neuer Gedanke3

Alexander Garth fasst diese und ähnliche Thesen zusammen und bringt sie auf den neuesten Stand. So spricht er nicht mehr von „liberaler Theologie“, sondern von einer „reduktionistischen Theologie“, die den inneren Zerfall ausgelöst hat.((Garth A. (2021), Umkehren oder Untergehen, S. 83 ff und die 7. These S. 214))

Auch mir persönlich sind diese Zusammenhänge seid meiner Doktorarbeit und vor allem seid meinem Aufenthalt in den USA 1988 bewusst.4.

Ecclesia incurvata in se (die Kirche ist in sich selbst verkrümmt)

Die Frage ist, warum erscheint dieses Buch gerade jetzt? Es hat den Anschein, dass diese alten Themen nun wieder aktuell sind, weil das was bereits seid 200 Jahren sich anbahnt, jetzt mit aller Deutlichkeit und Härte auf uns zukommt. Der rein zahlenmäßige und finanzielle Niedergang der großen Volkskirchen.

Damit kommt nach über 200 Jahren keine Ruhe in die Diskussion. Es scheint so, dass die Kirche sich hier im Kreise dreht. Von liberaler aber auch von konservativer Seite werden immer wieder die selben Argumente vorgebracht. Wie sind anscheinend noch nicht viel weitergekommen.5 Man könnte den Satz Luther gut und gerne umformulieren. Nicht nur der Mensch ist als Sünder vor Gott in sich selbstverkrümmt (homo incurvatus in se), sondern auch für die Kirche gilt entsprechend: ecclesia incurvata in se (Die Kirche ist in sich selbst verkrümmt).

Daraus folgt aber auch: Die Kirche ist nicht nur reformbedürftig (ecclesia semper reformanda), sondern auch erlösungsbedürfig. Sie bedarf zutiefst ihres auferstanden Gründers Jesus Christus um wieder auf die Spur zu kommen.

Hier liegt Garth richtig, wenn er sagt, dass es ohne eine erneuterte Christologie keine erneute Ekkesiologie geben kann6

Auf den richtigen Mix kommt es an

Für seine Argumentation stützt sich der Autor weitgehend auf religionssoziolgische Untersuchten aus dem Ausland. Kirchen wachsen weltweit. Hier könnte die These, dass es nur an der richtigen Christologie liegt zu kurz greifen. Aus meiner eigenen Erfahrung aus Tansania und das ringen um eine diakonische Kirche dort7 weiß ich dass es auf den richtigen Mix ankommt. Sehr schön wird dies vom Autor in der Rede von der dreifachen Bekehrung dargestellt: Bekehrung zu Jesus, zur Kirche und zur Welt.(( Vgl. Garth A.(2021), Umkehren oder Untergehen, S. 180)) Mit einem ähnlichen Modell haben wir auch in Tansania gearbeitet: Die Kirche ist ein Dreibein aus Zeugnis, Gemeinschaft und Diakonie. Fehlt ein Bein wird das ganze sehr wackelig.

Die Frage bleibt noch offen, warum es die Freikirchen in Deutschland auch nicht geschafft haben, Boden gut zu machen. Auch ihnen könnte die vom Autor angedeutete religiöse Immunisierung Deutschlands durch die Volkskirchen zu schaffen machen.((Garth A.(2021), Umkehren oder Untergehen, S. 51 ff)) Hier deutet der Autor zwar an, dass es oft an dem fehlenden Weltbezug der Konservativen fehlt,((a. a. O, z.B. S. 183)),.  aber hier greift die Analyse von Garth zu kurz. Es fehlen Überlegungen, wie orthodoxe und gesetzliche Strömungen, Gemeindewachstum zum Erliegen und zum Erstarren bringen((Ich verweise nur auf die Probleme die die Orthodoxe Kirche in der Auseinandersetzung  mit dem Islam hatte und auf die Phase der altprotestantischen Orthodoxie)) und wie eine lebendige Theologie deshalb aussehen muss. Wie entsteht die Faszination „Jesus“, ohne dass wir sie durch erstarrte theologische Dogmen absichern müssen?

Was ist jetzt zu tun?

Meine Frage ist: Wenn es jetzt 5 vor 12 für die Volkskirche ist, was ist jetzt zu tun? Wenn wir in der Kirche bleiben, werden wir alle Hände voll mit den anstehenden Reduktions- und Rückzugsprozessen zu tun haben. Und wir werden leider immer wieder erleben müssen, dass diese Prozesse noch von dem alten überholten Kirchenmodell geleitet werden und nicht wirklich zu einer Erneuerung von Innen beitragen. Im Gegenteil wir werden sogar mit Anfeindung und Ausgrenzung rechnen müssen.

Theologische Arbeit an einer lebendigen Christologie

Als vordringliche Aufgabe sehe ich die Arbeit an einer lebendigen Christologie an. Vgl .dazu meine Beiträge unter Einfach Jesus).((Das schließt natürlich nicht aus, dass wir ebenso eine erneute Missiologie, Pneumatologie und Ekkesiologie brauchen. Aber der Ausgangspunkt muss bei Jesus Christus liegen)) Es geht dabei nicht um die Erneuerung der alten Dogmen. Sie sind ja aus der Apologetik der ersten Jahrhunderte entstanden, bei der sich das Christentum im multireligiösen Kontext durchsetzen musste. Wir steuern heute wieder wie Garth richtig sieht auf eine ähnlich Situation zu.  Wir müssen heute erklären können, warum der Glaube an Jesus Christus spirituell nicht nur gleichwertig mit anderen Formen der Religiosität ist (was schon schwierig genug ist), sondern sogar noch viel besser!

Hier sehe ich im Moment das größte Defizit:  Wir sind uns in unserer binnenkirchlichen Perspektive noch gar nicht bewusst, vor welchen Herausforderungen wir stehen. Es reicht eben heute eben nicht mehr verschämt zu sagen, dass der Glaube an Christus ja auch noch eine Möglichkeit ist, den viele Menschen haben schon auf dem freien religiösen Markt eine für sie bessere Lösung gefunden. Und es reicht auch nicht nur zu postulieren, dass Jesus Christus die bessere Option ist. Wir müssen schon mit unserem ganz Leben überzeugend begründen, dass er in allen Lebenslagen die beste Option ist. Ich sehe dazu im Moment weder auf liberaler noch auf konservativer Seite wirklich theologische Neuansätze. Ich persönlich arbeite zur Zeit an einer neuronalen Theologie, wo mir zu mindestens in einigen Detailfragen schon Brückenschläge zwischen Neurologie und Naturwissenschaften gelungen sind.((vgl. z.B. meinen Artikel "Ressource Jesus"))

Wir brauchen ein Bewegung

Sowohl den Christen der ersten Jahrhunderte als auch den Reformatoren ist es gelungen, durch Ausnützung der damals vorhandenen Kommunikationsmöglichkeiten eine Bewegung auszulösen.

Nun kann man Bewegungen nicht einfach auf dem Reißbrett entwerfen, sie werden geboren. Aber sie entstehen aus der Haltung, möglichst viele Menschen für eine Sache begeistern und mitnehmen zu wollen.

Dafür sind wir aber noch zu viele Einzelkämpfe. Gerade viele eher konservative Organisationen riegeln sich hermetisch ab, gegen alles, was nicht genau in ihr Raster passt. Wir müssen wenn die Grundrichtung klar ist, die Christologie zu erneuern, hier gemeinsame Sache machen und uns gegenseitig den Rücken stärken.


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  1. De Valenti (1821), Über den Verfall der protestantischen Kirchen, Quellenangaben und weitere Informationen finden sich in meiner Dissertation  Burkhardt, M. (1999), Die Diskussion über die Unkirchlichkeit, ihre Ursachen und möglichen Abhilfen im ausgehenden 18. und frühen 19. Jh. []
  2. vgl. Burkhardt, M. (1999),Die Diskussion über die Unkirchlichkeit, ihre Ursachen und möglichen Abhilfen im ausgehenden 18. und frühen 19. Jh, bes. §6 "Die Einstellung der Erweckungsbewegung zu Aufklärung und kirchlicher Erneuerung und ihr Einfluss auf die nachfolgende Reformdebatte" und bes. zu De Valenti, S. 257 ff []
  3. vgl. den poientierten Beitrag von Kopfermann W.(1990), Abschied von einer Illussion -Volksirche ohne Zukunft []
  4. Vgl meinen Artikel "Mein Leben für die Kirche" []
  5. Für die konservative Seite ist sicherlich das hier vorgestellte Buch von Garth ein gutes Beispiel. Für die liberale Seite genügt ein Vergleich  der Reformpapiere der letzen Jahre, z.B EKD, Kirche der Freiheit (2006) mit der Diskussion vor zweihundert Jahren. []
  6. Garth A.(2021), Umkehren oder Untergehen, S.127 []
  7. vgl. meinen Artikel „Der Blick zurück nach Deutschland“ []