Relativismus und Absolutheit

Die Frage ob es absolute Werte und Wahrheit gibt oder alles doch nur relativ ist, ist eine der großen Fragen der Geistesgeschichte.
In diesem Artikel vertrete ich die These, dass sich dabei nicht um sich ausschließende Ansichten handelt, sondern die systemisch und neuronal miteinander verbunden werden müssen.

Die beiden Systeme

Wir können zwei unterschiedliche Systeme unterscheiden:

  1. ein System, in dem es keine absoluten Werte gibt, ich nenne es System des Relativismus
  2. ein System, in dem es absolute Werte gibt, ich nenne es System des Absoluten. Ich vermeide hier den Begriff Absolutismus weil er bereits für eine historische Periode verwendet wird.

Diese unterschiedlichen Systeme finden sich in verschiedenen Wissenschaften:

  • in der Theologie
  • in der Geistesgeschichte
  • in der Politik
  • in der Soziologie

Natürlich können wir diese beiden Systeme nur hypotheisch in Reinform destilieren, denn so ist die These dieses Vortrages Es gibt sie nicht in Reinform, sondern beide Systeme bedingen sich gegenseitig.

Ich stelle nun die beiden System durch einen geistesgeschichtlichen Rückblick kurz dar ohne zu sehr auf Details einzugehen.

Das System des Absoluten

Geistesgeschichtlich ist das System des Absoluten eine Mischung der platonischen Ideenlehre mit der Vorstellung einer höchsten Idee und der christlichen jüdischen Monolatrie (=Verehrung eines einzigen Gottes), bzw. Monotheismus (=Vorstellung, dass es nur einen Gott gibt).
Das System war das vorherrschende System des Mittelalters, genauer gesagt von dem Zeitpunkt der Schließung der platonischen Akademie in Athen im Jahr 529 n.Chr., bis hin zur Beginn der Neuzeit durch den Thesenanschlag Luthers im Jahr 1517.
Politisch äußerte sich das System des Absoluten in der Idee eines corpus Christianum, einer politischen und religiösem Einheit des Abendlandes, repräsentiert durch Kaiser und Papst.
Theologisch zeigt sich das System des Absoluten in der Ausbildung geschlossener Systeme, wie z.B. das System des Thomas von Aquin oder die Lehrentwicklung in de alt - und neuprotestantischen Orthodoxie. Philosophisch hat es im Werk des Philosophen Hegel seinen vorläufigen Abschluss gefunden, der als letzter versuchte ein umfassendes theologisches und philosophisches System zu entwickeln.

Das System des Relativismus

Der Relativismus in der Antike

Es ist die Frage, ob bereits die Antike einen Art Relativismus gekannt hat.
Zu mindestens und hier blitzt bereits ein erstes mal meine These auf, war im römischen Kaiserreich sehr viel an Philosophie und Religion erlaubt, solange sie nicht prinzipiell die Autorität des Kaisers in Frage stellte. Das römische Kaiserreich war also bereits eine plurale Gesellschaft, in der sehr viel Platz für unterschiedliche Religionen und Philosophien gab.
Das heißt relative Systeme sind nur möglich, wenn es eine gewisse Konstanz, eine gewisse gemeinsamen Konsens gibt, der entweder durch das staatliche Machtmonopol oder durch Übereinkunft hergestellt wird.
Als diese staatliche Gewalt im weströmischen Reich zerfiel, sprang die Kirche in die Bresche und legitimierte die Macht noch einmal religiös neu und daraus ist das absolute System des Mittelalters entstanden.

die moderne politische Freiheit

Erst in der französischen Revolution kam es dann zu einer säkularen Begründung der politischen Macht mit dem Motto "Freiheit, Gleichheit. Brüderlichkeit". Das heißt nun war jeder (und später auch jede) gleichbedeutend. Jede Meinung war wichtig, jede demokratische Stimme zählte.
Allerdings und hier wird wieder meine Grundthese deutlich, war die Französische Revolution theologisch bereits durch Martin Luther vorbereitet worden durch dessen Wiederentdeckung der Rechtfertigungslehre die prinzipielle Gleichheit aller Menschen vor Gott begründet worden war. Dieser Begründungzusammenhang wurde bereits in den Bauernkriegen von 1525 deutlich, er konnte sich aber erst politisch 250 Jahre später durchsetzen.

Wechselseitige Perspektiven

Damit sind einleitend die beiden Systeme kurz dargestellt. spannender wird es nun beide Systeme in Verbindung zu setzen.

Wie das System des Relativismus das absolute System sieht

Relativistische Ansätze sind durch absolute Systeme immer wieder verfolgt worden.
Denn das System des Absoluten und das ist ja gerade der Sinn des Absoluten, duldet neben sich keine weiteren Systeme.
Und so zieht sich eine blutige Spur durch die Geschichte: von der Ausrottung Andersgläubiger im Alten Testament, über die Christenverfolgung der Antike bis hin zur Inquisition des Mittelalters.
Absoluten System, so der Vorwurf, fehlt jede Toleranz und die Anerkennung Andersdenkender.
Und so mussten sich relativistische Systeme ihre Freiheit meist durch Revolution und Aufstand gegenüber absoluten Systemen erkaufen.

Wie das System des Absoluten das System des Relativismus sieht

Allerdings würden hier die Vertreter absoluter Systeme einwerfen, die Verteidigung der absoluten Systeme gegenüber Relativierungsversuchen geschah nicht ganz ohne triftigen Grund.
Natürlich muss man einräumen, dass die Verteidigung auch oft aus egoistischen Machtintressen erfolgte.
Aber ohne gemeinsam anerkannte Werte funktioniert eben keine menschliche Gemeinschaft und ist nicht von Bestand.
So hätte das Volk Israel auf Dauer nicht exisitieren können und seine Identiät verloren, wenn es nicht durch den Glaube an den einen Gott zusammengehalten worden wäre und wird. Und dieses Argument wiederholt sich natürlich immer wieder, bei den Christenverfolgungen oder bei der Inquisition.
Natürlich heiligt der Zweck nicht die Mittel und absolute Systeme führen sich dann ad absurdum, wenn sie zum Erhalt der von ihnen vertretenden Werte, Mittel einsetzen, die diesen Werten widersprechen. Dann relativieren sie sich selbst
Aber so viel muss immerhin festgehalten werden, dass sich der Einsatz für absolute Werte schon lohnen kann, weil sonst die Gefahr besteht, dass das System des Relativismus in einen absoluten Relativisums abdriftet, der in Chaos und Selbstzerstörung endet.
"Die Revolution frisst ihre Kinder" - Freiheitliche Systeme erlebten immer wieder den Rückfall in Barbarei und Schreckensherrschaft. So geschehen in der Schreckensherrschaft Robespiere oder im Nationalsozialismus.
Wo absolute Werte fallen, entsteht ein Vakuum, das dann sehr schnell unter dem Decknamen der Freiheit durch andere Werte ausgefüllt wird, die erneut Absolutheit beanspruchen.
Und hier taucht nun ein schwerwiegendes Argument auf: Es gibt eben kein wirkliches System des Relativismus. Der Mensch braucht immer absolute Werte.. Anders kann er gar nicht leben. Er ersetzt blos einen absoluten Wert durch einen anderen Wert. Ein Gesetzt durch ein anderes.
Und sei es, dass der Relativismus, selbst zur höchsten und absoluten Norm erhoben wird.

Systemgrenzen

Die Frage ist, ob beide Systeme sich nicht gegenseitig brauchen um sich voneinander ab zu grenzen und sich dadurch selbst zu definieren?
Dazu entwickeln die Systeme entsprechende Feindbilder. Dabei wird aber immer wieder ein verzerrtes Bild verwendet.
Das System des Absoluten entwirft daher das Scenario eines absoluten Relativismus mit seinen negativen Folgen um sich selbst und mögliche Abwehrscenarien zu legitimieren.
Genauso entwirft der Relativismus ein entsprechendes Feindbild des absoluten Systems mit seinen negativen Folgen, um sich selbst zu legitimieren.
Logisch geschieht dabei folgendes:
Wenn zur Definition der eigenen Systemgrenzen ein anderes System ausgegrenzt wird, dann wird das eigentlich abgegrenzte System mit in die eigene Definition übernommen.
Dies hat zur Folge, dass das System des Relativismus selber absolut wird und das System des Absoluten sich selber relativiert.

Neuronale Anmerkungen

Neuronale Forschung und der Konstruktivismus

Neuronale Forschung basiert heute meist
auf den Annahmen des Konstruktivismus.
Alle unsere Vorstellungen, Denkweisen, Ansichten sind Konstrukte unseres Gehirns und damit relativ und individuell. Niemand kann einem anderen ins Gehirn sehen. Und jeder interpretiert eingehende Informationen auf Grund seiner individuelle Vorgeschichte.
Allerdings muss hier einschränkend bemerkt werden, dass die Forschungen zur Neurosoziologie noch in den Kinderschuhen steckt und es vielleicht doch mehr verbindende Muster gibt, als wir uns das vorstellen.
Nun gut. Das besagt nun erst einmal, das sowohl das System des Absoluten als auch das System des Relativismus Konstruktionen unseres Gehirns sind. Die Frage muss nun vielmehr sein, warum unser Gehirn solche Konstrukte produziert?

Vermehrung der Optionen ist der neuronale Sinn relativer Systeme

In relativen Konstruktionen müssen möglichst viele Optionen offen gehalten werden. Diese Offenheit ist die Bedigungen der Freiheit in relativen Systemen, im Sinne von Wahlmöglichkeiten.
Erst die Großhirnrinde ermöglicht es uns überhaupt solche komplexe Systemen mit mehreren Wahlmöglichkeiten neuronal zu repräsentieren.
Allerdings sind sie um den Preis eines sehr hohen Energieverbrauches erkauft.
Dies kann zu einer Überforderung und Überlastung unseres Gehirns führen.
Es wird dann alles schwammig und nicht mehr greifbar.
Es ist anstrengend diese Vielfalt auszuhalten und durchzuhalten.

Reduzierung der Optionen und Entscheidungsfindung ist der Sinn von absoluten Systemen

Deswegen brauchen relative Systeme absolute Systeme zur Ergänzung. Dadurch werden Optionen reduziert und es kann zur Entscheidungsfindung und Handlung kommen.
Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass es den reinen Relativismus nicht gibt. Denn entthronte absolute Werte müssen umgehend durch andere absolute Werte ersetzt werden.
Allerdings hat eine zu starke Dämpfung durch absolute Wert einen gegenteiligen negativen Effekt. Es kommt dadurch zu einer Reduzierung und Einengung von Handlungsmöglichkeiten. Diese kann, wenn dadurch lebensbejahende und lebensfördernde Optionen ausgeschlossen werden schädlich sein.
Im Extremfall führt dies dann zu einem Rückfall in Fundamentalismus und Totalitarismus, die einen kompletten Ersatz des relativistischen System durch ein neues absolutes System anbieten.

Neuronale Notwendigkeit beider Systeme

Daraus folgern wir: Neuronal sind beide Systeme notwendig und aufeinander bezogen. Wir brauchen relative Systeme um Handlungsmöglichkeiten zu entwerfen und zu modifizieren. Diese Option ist Bestandteil unserer menschlichen Freiheit und Würde.
Allerdings ist diese Freiheit begrenzt. Durch Entscheidungen kommt es zu Bindungen, die Handlungsoptionen einschränken. Dadurch wird aber zugleich auch Sicherheit und Geborgenheit geschaffen.
Diese sind für unsere neuronalen Systeme unerlässlich, wie z.B. das Bindungssystem oder das Stressverabeitungssystem. Dadurch wird der Raum unseres Lebens strukturiert. Es entstehen zwar dadurch noch nicht allgemeingültige absolute Werte, aber zu mindestens konstruieren wir uns einen sicheren Raum.
Dieser ist notwendig, damit unser neruonales System wieder zur Ruhe kommt.
Erst aus dieser inneren Ruhe heraus ist es dann wieder möglich, sich in die Vielfältigkeit möglicher Optionen kreativ einzulassen.